Kolonialismus und dekoloniale Perspektiven

Wir begrüßen Sie zum dekolonialen Stadtrundgang Konstanz. Seit einigen Jahren wächst das Interesse an der deutschen Kolonialgeschichte und inzwischen auch an der lokalgeschichtlichen Perspektive auf koloniale Unternehmungen. Diesem Interesse begegnen wir hier, indem wir einen Blick werfen auf Orte, Institutionen und Bilder in der Stadt, die den Zusammenhang von Prestige, Besitz, Kolonialismus und Sklaverei darstellen. An dieser Stelle möchten wir mit einem Intro in das Thema einführen. Weitere Infos zu folgenden Themen können Sie ebenfalls abrufen. Demnächst werden auch die Texte zu den Stationen nachzulesen sein.


Idee und Ziel
Stationen 1 und 2 - derzeit noch nicht verfügbar
Stationen 3 bis 6 - derzeit noch nicht verfügbar
Quellen und Literatur
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Was heißt Kolonialismus?

Kolonialismus ist nicht nur eine bestimmte historische Phase, in der politische Entscheidungen über Krieg, Expansion und Siedlungspraktiken außerhalb des eigenen Landes gefällt wurden. Unter Kolonialismus in seiner modernen Ausprägung versteht man:

1. die ökonomisch-militärisch gestützte, politisch und kirchlich ermöglichte und narrativ stabilisierte Verfahrensweise, auswärtige Territorien in Besitz zu nehmen, ihre Bevölkerung zu unterwerfen, zu versklaven oder auch zu töten.

2. ist Kolonialismus eine historische Phase, die mit Kolumbus‘ erster Reise begonnen hat und im 20. Jahrhundert mit den Unabhängigkeitskriegen endete. Sie begann mit Kriegen und Eroberungen in rohstoffreichen Gebieten, integrierte früh den Sklavenhandel und prägt(e) bis heute die politische Landkarte der globalen Beziehungen der Moderne.

Der Kolonialismus ist also zugleich ein kulturelles System, eine gesellschaftlich umfassende Existenzform und Weltsicht sowie eine historische Periode mit ihren besonderen Ereignisreihen. Alle Aspekte spielen im Stadtrundgang eine Rolle.

Kolonialgeschichte im Wandel der Zeit

Zuletzt gab es in Konstanz eine Hoch-Phase der kolonialen Geschichtsschreibung zwischen den 1880er und 1940er Jahren, vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus. Die Suche nach Belegen für deutsche heroische Kolonialunternehmungen hatte Konjunktur. Das Deutsche Kaiserreich verlor 1919 seine Kolonien, man trauerte dem Verlust nach. Innereuropäische Rivalitäten um die beste Eignung als Kolonialmacht, der als Schmach empfundene Verlust der Kolonien im Versailler Vertrag und die Kriegskultur des NS bilden den etwa 60jährigen historischen Kontext zum Verständnis beispielsweise eines Kolonialromans über einen Konstanzer Konquistador von Paul Sättele, der 1940 über Ambrosius Ehinger (der in Wahrheit ein Ulmer mit dem Namenszusatz „Dalfinger“ oder „Thalfinger“ war) schreibt. Der Gouverneur der Welserkolonie Venezuela der 1530er Jahre wird darin als tapferer Krieger mit germanischen Mannestugenden gezeichnet, im Unterschied zu den charakterlich als schwach und verdorben dargestellten spanischen Zeitgenossen in Übersee.

Heute ist die Erinnerung an die Kolonialgeschichte geprägt von den Erfahrungen und Verwerfungen des nachkolonialen Zeitalters und seiner veränderten ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen. Der Wunsch, sich mit den Kolonialherren zu identifizieren, hält sich heute in Grenzen. Neue Erzählperspektiven jenseits der Heldenerzählung werden diskutiert und vorgeschlagen: Die dekoloniale Perspektive, die in den Geistes- und Kulturwissenschaften der lateinamerikanischen und karibischen Universitäten seit den 1990er Jahren durch Enrique Dussel, Ramón Grosfoguel, Aníbal Quijano, Silvia Rivera Cusicanqui und andere erarbeitet wurde, integriert Sichtweisen nicht-europäischer Herkunft in die Deutung und das Verständnis des Kolonialismus und seiner Folgen. Der Kolonialismus des Wissens und der Wissenssysteme ist lange Zeit übersehen worden. Wissenschaften und Erkenntnisformen der Kolonisierten sind von den Kolonialherren nicht in den Wissenskanon integriert worden und schlicht als Wissensformen ignoriert und geleugnet worden. Die dekoloniale Forschung erweitert reduktionistische Darstellungen eurozentristisch konstitutierter Rationalitäten und Subjektivitäten durch indigene Wissenssysteme, Begriffe und Darstellungen. Die Grundthese der post- und dekolonialen Studien besteht in der Annahme, dass die kulturelle, psychische, ökonomische und soziale Kolonialisierung in den Strukturen weiter andauert, während Unabhängigkeit nur im politischen Register erreicht wurde.

Dieser erweiterte Begriff des Kolonialismus und der Kolonialität als „Kehrseite der Moderne“ (Walter Mignolo 2010) führt zu Forschungsfragen wie: Welches Wissen, welche Erkenntnispraktiken wurden mit dem Kolonialismus ausgeschlossen? Welche Wissenschaftssysteme sind im toten Winkel des kolonialistischen Blickes geblieben? Welche Praktiken, Begehrlichkeiten und Redeweisen haben den Kolonialismus möglich gemacht? Welche Gewohnheiten des Sehens und Denkens haben dazu führen können, anderes Denken und Wirken auszuschließen?

Dieser erweiterte Begriff des Kolonialismus erlaubt auch veränderte Fragen zu stellen über das Wissen an den Herkunftsorten kolonialer Akteure. Da vieles verengt wurde auf politische (meist nationalgeschichtlich reduzierte) Kolonialgeschichte, ist aus dem Bewusstsein geraten, dass Kolonialgeschichte als Handels-, Expansions- und Kulturgeschichte auf einem großen Netz von Partnern, Unterstützern, Profiteuren, Zulieferern, Geschichten, Ideengebern und Ideologen basiert, die dieses System aufbauen und stabilisieren helfen.

Mit dem Kolonialismus hat sich ein Handlungs- und Denkkomplex etabliert, in dem sich das moderne Subjekt als „absentee landlord“ (Bruno Latour, 2017) entwickeln konnte, der seine Zone des Wohlstands auf Kosten eines riesigen kolonialen Hinterlandes kultiviert und dabei dessen Lebensbedingungen zerstört. Konstanz kann damit als kritische Zone innerhalb eines sich verändernden Netzes global verbundener Zonen in den Blick genommen werden, in dem menschliche, technische, ökonomische und materielle Werte neu (nämlich „modern“) definiert, verhandelt und umgewälzt wurden.

In Konstanz ist aus einer gemeinsam mit der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft gewachsenen Fernhändler-Sparte heraus der Textilhandel mit dem Mischgewebe Barchent (Leinen-Baumwoll-Mischfaser) zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhunderts zur bedeutenden international gehandelten Ware avanciert. Fernhandelsrouten verlaufen von Süddeutschland aus nach Antwerpen, Lyon und vor allem Venedig und sind an den Asienhandel angeschlossen. Sie ermöglichen die Bildung eines beträchtlichen Kapitals und die Infrastrukturen des Handels, der Kommunikation und der Finanzflüsse im Mittelmeerraum.

Als im späten 15. Jahrhundert der Atlantik als neue Handelsroute auf dem vermeintlich direkten Weg nach Asien erschlossen wird, bewegen sich auch Konstanzer Unternehmer mit Niederlassungen der großen Bankhäuser Fugger, Welser, Hochstätter an die Atlantik-Häfen von Lissabon und später Sevilla. Sie sind politisch mit den Königen von Spanien eng vertraut, schließen Gesellschaftsverträge mit den großen Augsburger Handelshäusern und sind auch in die religiösen Geschicke der Stadt Konstanz involviert, die in der frühen spanischen Kolonialzeit die Reformationszeit erlebt.

Kolonialwaren, koloniale Lieferketten

Die Textilbranche ist, wenn auch mit Unterbrechungen, bis ins 19. Jahrhundert Motor kolonialer Produktions- und Lieferketten im transatlantischen Dreieckshandel geblieben. Neben dem Tuchhandel, verbunden mit den für das Tuch verwendeten Färbestoffen (Indigo, „Türkischrot“), sind Gewürze und „Spezereien“ wichtige und begehrte koloniale Waren der Konstanzer und anderer Süddeutscher Fernhändler. Wichtige Funktionen übernahmen Pfeffer und der Safran, der im süddeutschen Raum eine Schlüsselrolle spielte. Um die extrem teuren Luxusprodukte für den Weiterverkauf einzukaufen, mussten große Mengen an Kapital zusammengeführt werden: dies geschah einerseits durch den Zusammenschluss von Händlern zu größeren Gesellschaften, andererseits durch Kredite. Seit dem internationalen Fernhandel mit seltenen Luxuswaren bildete sich ein besonderer Typus des Kaufmanns heraus, der Spekulant, der Gewinnmargen von mehr als 300% anvisieren konnte, wenn die begehrten Waren knapp genug waren. Oder wenn die Produktion entsprechend verbilligt werden konnte. Plantagen-Sklaverei entwickelte sich zur ökonomischen Grundlage für Spekulationsobjekte wie Zucker, Baumwolle, Tabak, später Kaffee und Tee.

Konstanzer Kolonialhändler sind als Sklavenhändler bei den ersten großen transatlantischen Sklavereiverträgen 1528 beteiligt.

Weiterlesen:

Intro Idee und Ziel Stationen 1 und 2 Stationen 3 bis 6 Quellen und Literatur


Literatur

Burkhardt, Johannes / Häberlein, Mark, 2002, Die Welser. Neue Forschungen zu Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses, Colloquia Augustana 16, Bd. 16. Berlin.

Latour, Bruno, 2017, Oú atterrir? Comment s’orienter en politique, Paris.

Mignolo, Walter, 2010, „Colonialidad. La cara oculta de la modernidad”, in: Mignolo (Hg.), Desobediencia epistémica. Retórica de la modernidad, lógica de la colonialidad y gramática de la descolonialidad, Buenos Aires, S. 39-48.

Lander, Edgardo, 2000, La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas. Buenos Aires. Osterhammel, Jürgen/ Jansen, Jan,2017, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München.

Sättele, Paul, 1940, Ein deutscher Konquistador. Erzählung um die Besitzergreifung Venezuelas. Köln/Leipzig.